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Opferschicht

Narben und Namen

Ein Tanzfilm über die Spuren der Unsichtbaren in der Gesellschaft.

Premiere am Fr 2.7.2021, 19:00 / HAU4. 

Im Anschluss bis 9.7. in der HAUthek verfügbar

SCRATCHA – Die Narben der Stadt mit dem Körper erforschen

Wir fragen, SCRATCHA, was siehst du? Mit einem spitzen Gegenstand schreibt wer einen Namen ins Fenster der Bahn. Oder beim Warten auf den Zug, in die Armstütze der Sitzbank aus Holz. Manche verwenden Schleifsteine, andere basteln sich kleine Werkzeuge dafür. Ist das schlimm? Die ganze Stadt ist doch komplett abgeschliffen, zerkratzt, vernarbt, abgenutzt von denen die in ihr wohnen und leben. Doch Kratzbuchstaben stören und werden bekämpft. OPFERSCHICHT heißt die Folie auf den Scheiben in der U-Bahn. Sie wird geopfert, wenn sie voller reingekratzter Buchstaben ist, das ist wie ein Ritual. Unerwünschte Schrift wird abgezogen und weggeworfen.

Die feinen Kratzbuchstaben in der Folie auf der Scheibe, das sind Narben der Stadt, an was erinnern sie, oder an was können sie uns erinnern? Sie zu lesen ist eine Übersetzung, ein Hinweis, ein Protest. Die heile und saubere Welt der Plastikfolien, der geschützten Oberflächen wird aufgebrochen. Das Wort OPFERSCHICHT klingt nach mehr als nur einer Schutzfolie. Die soziale Opferschicht ist das Proletariat, die Marginalisierten, die die keine Stimme haben, aber auf deren Schultern die Gesellschaft ruht. Die den Wohlstand hier erschaffen haben und dann nichts davon abhaben sollen. Nimm eine Stadt wie Berlin. Ohne Migration, ohne migrantische Arbeit, würde hier gar nichts laufen. Und trotzdem wird dem migrantischen Proletariat in dieser Stadt kein Gehör geschenkt. Als wären es für immer „Gast“-Arbeiter und Arbeiterinnen, die dann irgendwann wieder verschwinden sollen, nachdem sie ihr OPFER für die Stadt hier gebracht haben. Ein zerkratztes Fenster wird zu einem sozialen Spiegel. Es ist ein Experiment in Sichtbarkeit, wo sind die Spuren all der Menschen. Wer hat die Stadt gebaut, wer bewohnt sie, wer nutzt sie, wer nutzt sie ab, wer zerkratzt sie, wer zerstört sie?

Der Künstler Kadir „AMIGO“ Memiş hat einen besonderen Blick auf den öffentlichen Raum. Mit 10 Jahren kam er als Kind türkischer „Gast“-Arbeiter nach Berlin. Hier entdeckte er Hiphop, Breakdance, Graffiti als seine Kunst. Er kennt die Zeichen dieser Stadt und hat seine eigenen hinterlassen. Er wurde ein urbaner Künstler, der sich selbst als städtischer Nomade versteht. In den JAZZSTYLECORNER-Sessions und bei den BACKJUMPS-Festivals hat er ein urbanes Labor gefunden, in dem sich Musik, Tanz und Körper begegnen: jazzige Klänge setzen sich an der Wand fort, getanzte Körper werden Zeichen, komplexe Kalligrafien entstehen. Sein Beitrag zu diesen künstlerischen urbanen Experimentierräumen ist die Verbindung von anatolischen Partisanentraditionen, die sich mit Wörtern wie Zeybek und Bozuk verbinden, und lokalem und globalem Hiphop, Breakdance und Graffiti, stark inspiriert von den Wildstyle-Theorien des New Yorker Hiphop Aktivisten RAMMELLZΣΣ. Es entstanden ZEYBREAK und BOUZUQΣΣ als Fusion dieser Ideen und als Hommage an diese Szenen. Der geschulte Blick eines urbanen Nomaden wird jetzt Ausgangspunkt einer tanzenden Untersuchung von OPFERSCHICHTEN, der Tanz eine Sichtbarmachung, die Methoden der Tanzschrift und des Schrifttanzes, also von BOUZUQΣΣ, zu einer solidarischen urbanen Spurensuche. AMIGO hat drei Tänzerinnen gefunden, die mit ihrem Körper die Spuren in der Stadt erkunden. Sie schlüpfen in die gemeinsame Rolle einer urbanen Nomadin. Was braucht unsere Figur, die sich auf den Weg macht den Spuren zu folgen? Sie braucht einen Namen. Nennen wir sie SCRATCHA, die Scratch- Archivistin, die die gekratzten Namen lesen kann, die die Spuren des Lebens dieser Stadt aufspürt. Sie ist eine ausgedachte

Figur, geben wir ihr eine Ausrüstung, beschreiben wir ihre Fähigkeiten. Sie kann: genau hinschauen, sie kann: ihren Körper der Umgebung anpassen, sie kann: die Spuren der Stadt mit ihrem Körper aufnehmen. Sie kann tanzen. Ihr Tanz ist eine Vergrößerung der Spuren. Die drei SCRATCHA und AMIGO graben die Schichten dieser Stadt aus. Mit einem großen Team, das in unterschiedlichen Medien arbeitet – wie Bühnenbau, Kostüm, Musik, Text und Film – und geschult von den Freunden von Jazzstylecorner ZASD und AKIM. Es werden Werkzeuge wie die FATSCRATCH-Kralle oder der mobile SCRATCHARCHScanner entwickelt und die Splitter der Opferschichten zu SCHERBENSCHRIFT-Skulpturen neu zusammengefügt. Die SCRATCHA bringen all die Narben und Namen, mit denen die Stadt überzogen ist, in Bewegung.  Film ab.

 Text von Lukas Fuchsgruber

 

Team

Künstlerische 

Leitung, Choreografie:  Kadir “Amigo” Memiş  / Von und mit:  Paris Crossley, Rocio “Pez” Becerra, Maren “Funky Mae” Wittig / Filmregie, Editor:  Rain Kencana / DOP:  Moritz Carstens / 1.AC: Nortey / Colorist:  Benjamin Packer Clrs. / Color Grading Boutique  / Dramaturgie:  Dandan Liu / Co-Choreograph:  Joy Alpuerto Ritter / Musik und Komposition:  Miguel Toro / Szenografie:  Jaybo Monk / Kostüm:  Judith Adam / Regiemitarbeit:  Lara Erse Keller / Künstlerische Beratung:  Gizem Aksu / Texte:  Lukas Fuchsgruber / Motocrosser:  Björn Swoboda, Iven Krüger / Produktionsleitung:  Francesca Spisto, Manon Lemoine / Dank an : AKIM Berlin / Thomas “ZAST” Bratzke / TAGNO

 

Video:

https://www.hebbel-am-ufer.de/en/programme/pdetail/kadir-amigo-memis-opferschicht-narben-namen-1/

 

Koproduktion: HAU Hebbel am Ufer.  Gefördert durch: Haupstadtkulturfonds.

 

 

Fotos:Koone